• Man geht nicht mit Fremden mit!

    “Ganz schön heiss hier” sagte Nathan.

    Da wusste ich noch nicht, dass er Nathan hiess, denn “Ganz schön heiss hier” war das erste, was Nathan zu mir sagte, noch bevor er sich vorstellte. Als er sagte “Ganz schön heiss hier” war er gerade quasi aus dem Nichts aufgetaucht und stand vor mir.

    Ich war etwas überrascht.

    Nicht, weil Nathan gesagt hatte, dass es ganz schön heiss sei. Denn er hatte recht. Es war unglaublich, surreal, flimmernd, atemberaubend, sau(na)mässig heiss, sogar hier im Schatten des einsamen Victoria River Roadhouses, neben dem Baum und hinter dem Campervan.
    Nein, was er sagte war nicht überraschend.

    Aber alles andere.

    Hier isses passiert. Man beachte das Schild.

    Hier isses passiert. Man beachte das Schild.

     

    Erstens erschien Nathan aus dem Nichts. Zweitens sprach er mich direkt an und lächelte mir mit festem Blick ins Gesicht, was für Aborigines eher unüblich ist, wenn man in Betracht zieht dass ein direkter Blick bei vielen (oder allen?) Stämmen als unhöflich gilt. Drittens war Nathan, den ich auf Mitte Zwanzig schätzte, nur mit einer Jeans bekleidet, ohne Schuhe, Hemd oder Hut stand er mit den Händen in den Taschen entspannt vor mir und reckte seine durchtrainierte Brust und seinen wohlgenährten Bauch in die sengende Sonne.

    Ach ja, und er war klitschnass, da er offenbar gerade mit seiner Jeans duschen war und während er bei mir stand rann das Wasser von seinem krausen Haar über seinen braunen Bauch in die Jeans, an den Knöcheln wieder raus und bildete die Idee einer kleinen Pfütze, bevor der flimmernde Asphalt die Feuchtigkeit schnell wieder verdampfte.

    Nathan lächelte mich an und sagte mit einem festen Händedruck: “Achja, ich bin Nathan”.

    “Ich bin Holger” sagte ich, Nathans Augen weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde bevor sein großes, rundes Gesicht in schallendes Gelächter ausbrach.

    “Was? Wie heisst Du? Brolgha!?”

    Er musste sich den Bauch halten vor Lachen und obwohl er über mich lacht ist es ein sympathisches Lachen, ein allumfassendes, einladendes Lachen und ich muss mitlachen.

    “Bei uns im Busch gibt es ein Tier, das so brüllt, wie Du heisst! BROLGHA!”

    In dem Moment kam Kerstin um die Ecke des Campervans und hüpfte vor Schreck einen halben Meter in die Luft, als sie den nach Luft schnappenden, halbnackten Aborigine sah.

    Nathan lies sich nicht beirren und erzählte uns, dass er mit seiner Familie hier sei um einzukaufen. Dabei zeigte er auf einen Holden (die lokale GM-Marke, also war es ein Kadett o.ä.), dessen Erstzulassung deutlich vor Nathans Geburt gewesen sein musste. Seine 3 Familienmitglieder standen um das Auto herum bzw. lagen darunter und füllten Wasser, Luft, Öl, Benzin und größere Mengen Bier in Kühler, Reifen, Motor, Tank und Kofferraum.

    “Wir haben eine schöne kleine Farm, ein bißchen nördlich von hier” sagte Nathan und zögerte kurz.
    “Cool”, sagte ich.
    “Wirklich schön. Jeder, der die Farm besucht, sagt, dass es ihm gefallen hat.”
    “Sounds nice”, sagte ich.
    Nathan stockt, tänzelt von einem Bein aufs andere.
    “Wo fahrt Ihr denn heute noch hin?”
    “Pine Creek oder so” sage ich unverbindlich.
    “Da ist unsere Farm ganz in der Nähe. Ein bißchen dahinter. Aber gut zu schaffen von hier aus.”
    “Cool” sage ich wieder und fange an, den Camper zu packen.
    “Nathan, es war schön, dich kennen zu lernen. Wir müssen jetzt weiter. Mach’s gut” sage ich und schließe die Schiebetür von aussen. Ich drücke ihm die Hand und er verabschiedet sich.

    Wir hüpfen in den Camper, Kerstin fährt los und ich ärgere mich.

    Es dauert ein Bißchen, bis ich drauf komme, WARUM ich mich ärgere.

    Offensichtlich habe ich gerade eine Einladung (oder die Einladung zu einer Einladung) ausgeschlagen. Das hätte cool werden können. Eine Aborigine-Farm. Authentisch. Nicht irgendwelches touristisches Rumgehopse und semi-professionelles Didgeridoo-Gepupse von Stämmen, die 40,000 Jahre nicht mal wussten, was ein Didgeridoo ist, bis der weiße Tourist gekommen ist und deutlich kommunizierte, dass er gutes Geld für einen Schwarzen zahlt, der in ein Bambusrohr pustet und dass es ihm völlig egal ist, wo in Australien er das tut – auch wenn ein Aborigine im Süden mit Didgeridoo so sinnvoll ist wie ein Ostfriese der zum Alphorn Schuhplattlert.
    Nee, was Nathan uns da in Aussicht gestellt hat, wäre echt gewesen. Freundlich. Was man sich für Reisen nur wünscht.

    Und ich hab’s ausgeschlagen.

    Weil man nicht mit Fremden mitgeht.

    Das lernt man ja schon, wenn man klein ist. Geh nicht mit Fremden mit. Das lernt man auch als Reisender. Als Touri bist du verwundbar und ein wunderbares Opfer für lokale Gangster. Keiner vermisst Dich, Du kennst Dich nicht aus. Alle Horrorstories über Reisende fangen an mit “einem Local getraut, niemandem gesagt, wo sie hingehen wollten und auf einmal ohne Niere und mit dem Kopf sauber vom Körper getrennt in einem ausgetrockneten Flussbett gefunden worden.”

    Was man dabei nicht in Betracht zieht, ist, dass Fremde eigentlich – statistisch gesehen – die besseren Freunde sind. Überlegt mal, wieviel Schmerz und Leid euch schon von Freunden und Bekannten verursacht wurde.
    Und dann überlegt mal, wie oft Fremde Euch geschadet haben.
    Bei mir kommen die Fremden besser weg.

    Es spricht alles dafür, Fremden zu trauen.
    Für mich sind die coolsten Reisegeschichten die, in denen der Erzähler von jemandem vor Ort eingeladen wird. Gastfreundschaft. Einladungen. Sich kennenlernen. Darum geht’s doch beim Reisen, oder?
    Und hier steht ein freundlich lächelnder Nathan vor mir, meine Menschenkenntnis findet ihn komplett vertrauenswürdig und angenehm und er baut Brücke um Brücke zur Einladung zu seiner Ranch.

    Aber ich habs nicht getan und die Gelegenheit, ein paar Tage als Gast auf einer traditionellen Aboriginefarm zu verbringen, ohne weiteres Überlegen ausgeschlagen.

    Auf der anderen Seite hab ich meinen Kopf noch auf den Schultern, was – insbesondere, weil man bei der Hitze hier immer einen Hut tragen muss – nicht unangenehm ist.

    Ärgerlich finde ich es trotzdem.

    Was hättet ihr gemacht?